Von Sebastian Herrmann

Der Nebel der letzten Nachtstunden schlägt sich als Tropfen auf der Brille nieder und verwandelt die Fahrt in einen Blindflug. Es ist früh am Morgen und stockfinster. Links des Weges verläuft eine Eisenbahntrasse, rechts ziehen die Fichten eines finsteren Forsts vorüber. Der Asphalt ist feucht und immer wieder von Laub bedeckt. Vor mir fahren Jörg und Sebastian auf ihren Rennrädern. Ihre Rücklichter sorgen dafür, dass ich durch meine nassen Nebelbrillengläser erst recht nichts mehr sehe: Die Tropfen streuen das rote Licht der kleinen Lampen und brechen es zu einem Kaleidoskop-Gewirr. Für einen Moment rutsche ich mit dem Vorderrad von der Kante des nassen Asphalts auf den Matsch neben dem Weg. Zum Glück fange ich mich wieder – spätestens jetzt bin ich wach.


Es ist Ende Oktober, kurz vor sechs Uhr morgens, und eigentlich sind wir hier etwas südlich von München auf vertrauten Wegen unterwegs. Trotzdem fühlt es sich in Dunkelheit und Nebel an wie der Start in ein unbekanntes Abenteuer. Und tatsächlich handelt es sich um einen großen Aufbruch: Jörg Kurzke, nimmermüder Radler, Randonneur, Langstreckenfuchs und Brevet-Organisator, fährt an diesem frühen Morgen Ende Oktober los, um die Strecke zu erkunden, auf der wir im Juli 2025 mit Fahrrädern in Begleitung von mehreren Rettungswagen in die Ukraine radeln wollen.

Jörg hat die Zeit und nach gerade drei Monaten auf den Hochebenen Südamerikas auch „die Lunge“, wie er sagt, um etwas mehr als 1200 Kilometer bis an die polnisch-ukrainische Grenze zu radeln. Das Wetter soll auch halten, also: raus und los!


Es ist das letzte Wochenende im Oktober. In dieser Nacht werden die Uhren um drei Uhr eine Stunde zurückgestellt, die Winterzeit bricht an. Für uns ist das ein Vorteil: Jörg plant, um 5 Uhr früh loszufahren; an diesem Tag will er es von München bis Linz schaffen, das sind etwas mehr als 300 Kilometer.


Sebastian und ich fassen den Plan, ihn wenigstens aus München zu eskortieren – Fotos machen, gute Fahrt wünschen und ein bisschen von dem Gefühl mitnehmen, dass wir im kommenden Sommer einen großen Plan umsetzen werden. Als mein Wecker morgens um 3.40 Uhr klingelt, bin ich aufgeregt wie vor einer großen Langstreckenfahrt: Da passiert gleich etwas Großes, auch wenn ich nur aus der Vorstadt nach München radele, Richtung Süden wieder hinaus und zum Frühstück wieder zu Hause bin.


Leicht aufgekratzt sitzen wir höllisch früh am Morgen bei Jörg in der Küche, trinken eine Tasse Kaffee und reden über den großen Plan, die Strecke, die Ukraine und natürlich über Fahrräder. Dann geht es los.

Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus machen wir Selfies und Fotos von Jörg auf seinem mit zwei Taschen behängten Rad. Natürlich sind die Bilder verwackelt, es ist ja dunkel. Dann rauf auf die Räder, raus aus der Seitenstraße, vorbei an der großen Tankstelle, an der die meisten von Jörgs Brevets enden, und über Schleichwege bis zum Perlacher Forst, der großen Rennradautobahn hinaus aus München, die in den letzten Stunden der Nacht verwaist im Dunkeln liegt.


Wir radeln, wir reden, ich sehe wegen der nassen Brille kaum etwas und fahre deshalb phasenweise unsicher durch die Nacht. Kurz vor Sauerlach halten wir an einer Kreuzung auf dem Radweg an, eine knappe Verabschiedung, noch einmal die besten Wünsche, gute Fahrt, und dann sehen Sebastian und ich zu, wie Jörgs Rücklicht langsam kleiner wird und in Richtung Osten verschwindet. Wir drehen um und radeln nach Hause.


Jörg schickt in den Tagen danach Bilder von der Brücke der Freiheit bei Bratislava, vom Nebel in Prerov, vom Hauptplatz in Pisov, von einem Sonnenuntergang in Mähren, aus dem Ort Karviná, aus Krakau, aus Tarnow. Und schließlich, nach viereinhalb Tagen Fahrt, zeigt der Messenger auf dem Handy ein Bild aus dem Ziel in Przemyśl – Jörg in Radlerkluft mit Bier und Wurst auf dem Tisch.

Danke, Jörg, danke. Du hast es dir mehr als verdient. Danke, dass du die Route erkundet hast. Bald brechen wir alle auf.